Dass es der Mutter trotz ihrer Krankheit (noch) relativ gut geht und Rose diesbezüglich emotional gesehen noch relativ in Watte gepackt ist, ist ja nicht in Stein gemeißelt oder ein unverrückbares Gesetz des Universums, sondern im Moment lediglich eine Arbeitshypothese für dich. Starke Gefühle und, damit verbunden, starke innere Konflikte deiner Hauptfiguren sind das, was die Leser am nachhaltigsten Interesse an deinen Geschichten haben lässt. Gerade großes Leid deiner Figuren ist ein unschätzbares Pfund, das du als Autor niemals am Wegesrand liegen lassen solltest.
Und da du meinen "Wächter des Elfenhains" erwähnst, so stimmt es sicherlich, dass diese Geschichte, was das Leiden meines Protagonisten betrifft, ziemlich intensiv ist. Andererseits ist es eine Geschichte mit einer positiven Wachstumsprämisse. Hier solltest du niemals das Bedürfnis des Menschen nach dem Guten, Sinnhaften und dem eigenen Lebensglück unterschätzen, das sich oft gerade in Lebensumständen zeigt, wo ein Mensch komplett am Tiefpunkt angelangt ist.
Großes Leid ist nicht einmal annähernd dasselbe wie Resignation, Hoffnungslosigkeit und Selbstaufgabe, und ein solches Leid besitzt ein Potenzial, aus dem du als Autor IMMER schöpfen solltest! Interessanterweise haben fast alle Rezensenten vom "Wächter des Elfenhains" gerade die große Emotionalität (was in diesem Fall ganz klar heißt: das Ringen meiner Hauptfigur mit ihrem eigenen Leid und Schmerz) als einen der positivsten Aspekte des Romans hervorgehoben. Klar kann man nicht jeden Lesergeschmack treffen (wie wir ja auch bei dem Einstieg mit der Oberlippe wieder gesehen haben), aber die Reaktion der meisten Rezensenten auf die Geschichte ist in meinen Augen eine Bestätigung des fundamentalen Prinzips beim Schreiben von Geschichten, die emotionalen Konflikte und das Leid der Figuren so intensiv wie möglich zu gestalten und sich dabei nicht von dem einen oder anderen Leser abschrecken zu lassen, dem das alles "zu emotionaler Weiberkram" oder "viel zu düster und hoffnungslos" ist.
Leid ist nicht hoffnungslos. Hoffnungslosigkeit einer Figur (und natürlich auch eines realen Menschen) ist nur EINE mögliche Reaktion auf Leid. Oft findet man auch - um es jetzt mal stark zu formulieren - auf dem Weg durch das Leid zu einem Licht, das zuvor nicht erkennbar war. Und ich bin fest davon überzeugt, dass die meisten Leser solche Figuren und Geschichten nicht zu düster und negativ finden, sondern es im Gegenteil genau das ist, was viele bei Geschichten suchen. Aus großem Leid kann auch große innere Stärke erwachsen. Und die Betonung liegt bei beidem auf groß.