Ehrlich gesagt hatte ich mich schon gewundert, dass dieses Thema hier noch nie aufgekommen ist, weil es auch mir in der Tat derzeit medial omnipräsent scheint.
Bezüglich Kriegsverbrechen: Wurde das nicht auch im Jugoslawien-Krieg in Srebrenica systematisch gemacht? "Systematisch" unterstellt hierbei, dass es einem Zweck diente und eben nicht nur Ausschweifungen der Besatzungsmacht waren.
Airstrike schrieb:Vergewaltigung als Foltermethode finde ich relativ Quatsch.
Habe ich in der Form auch nur bei Eragon gelesen, und zwar auch nur als Vorhaben, nicht de facto ausgeführt.
Es würde mMn höchstens Sinn ergeben, wenn der Bösewicht, der foltert, eine persönliche Beziehung zum Opfer hat. Dann mischt sich das Kalkül / die "Notwendigkeit" der Folter zum In-Erfahrung-Bringen von Informationen mit den persönlichen Gelüsten des Antagonisten.
Da ergibt es dann auch Sinn, dass er andere, vielleicht effektivere Foltermethoden vernachlässigt, die der Person mehr bleibende physische Schäden zufügen würden:
Airstrike schrieb:Es gibt wesentlich bessere, ja ich kann es nicht besser betonen, um längen bessere Foltermethoden, ja sogar welche wo man der Person nicht allzu sehr schadet, aber die Nerven erstellen halt dann trotzdem den Schmerz.
Deshalb lasse ich meinen Bösewicht auch erstmal Waterboarding anwenden. Psychoterror statt Game of Thrones-mäßiger Verstümmelei mit Blutgespritze... und außerdem noch ein zeitgemäßer Kommentar. Es mag sich dabei zwar um eine moderne Foltermethode handeln, aber was man dafür an "Requisiten" braucht, wäre ja nun auch schon im Mittelalter verfügbar gewesen.
Außerdem, so kreativ, wie mittelalterliche Folterknechte mit ihren Werkzeugen waren, kann ich mir kaum vorstellen, dass nicht damals auch schon mal jemand das Waterboarding entdeckt und ausprobiert hat. Der wird es dann nur natürlich anders genannt haben.
In welchem Verhältnis es von der Brutalität her allerdings zu mittelalterlichen Methoden steht, ist wohl schwierig zu beurteilen. In YouTube-Kommentaren, etwa unter dem Video, wo Christopher Hitchens das im Selbstversuch ausprobiert hat, haben sich einige angebliche Exsoldaten zu Wort gemeldet, die auch noch so einiges anderes mitgemacht haben und da ein "Ranking" erstellen konnten. Klar, dass verbrannt werden schlimmer sein dürfte, ist plausibel. Aber auf YouTube kann natürlich auch manch einer viel schreiben, wenn der Tag lang ist
.
Airstrike schrieb:Solche Szenen wie du sie beschriebst sind eher dafür gedacht, für Aufmerksamkeit zu sorgen.
Jepp... und diese häufige Verwendung dieses Tools lässt Feministinnen dann an Dinge wie die "Rape Culture" glauben, die solche Verbrechen angeblich normalisiert oder entschuldigt.
Ich fände den Begriff eher passend, um auszudrücken, dass die Geschichten unserer modernen Kultur einfach generell besessen scheinen von diesem Thema... und eben gerade nicht in verharmlosender Weise, sondern nach Manier der 1970er-Exploitation-Filme (I Spit On Your Grave, Last House on the Left etc.), um schnell eine emotionale Reaktion beim Leser / Zuschauer zu erzeugen.
Deshalb vergewaltigen Terry Goodkinds Bösewichte ja auch mit einer Häufigkeit, mit der andere ihre Unterhosen wechseln. Immer wieder das gleiche billige Rezept
...
Airstrike schrieb:Außerdem ist es die höchste Steigerung an billiger Spannung (Sex & Gewalt) die möglich ist.
Wie sagte Spider-Man in einem Comic: "Früher haben die bösen Buben wenigstens immer nur Banken ausgeraubt."
Ja, die Toleranz der Bevölkerung ist da deutlich nach oben gegangen.
Es funktioniert, weil bei weiblichen Charakteren evolutionär bedingt das Opfermotiv greift. Ihre Leben werden als wertvoller betrachtet - was sie evolutionär gesehen auch sind, daher heißt es ja auch "Frauen und Kinder zuerst" - darum ist es umso dramatischer, wenn einer Person etwas geschieht, die eigentlich von den anderen Charakteren beschützt werden sollte.
Die einzige Möglichkeit, das noch zu übertreffen, wäre demnach, wenn jemandem aus der noch stärker schutzbedürftigen Gruppe - sprich: einem Kind - in einer Geschichte irgendetwas zustößt. Damit meine ich jetzt nicht sexuell, sondern allgemein.
Um nochmal zu Eragon zurück zu kommen: Da gibt es ja in dieser einen Stadt die Szene mit dem Leichenhaufen mit dem aufgespießten Baby obendrauf. Auch in Horrorfilmen sind deshalb Kinder ja oft als Opfer zu sehen (wobei die Schauspieler dann ihren eigenen Film erstmal eine ganze Weile nicht sehen dürfen
).
Rein evolutionär müssten solche Szenen über ein großes Publikum hinweg noch stärkere emotionale Reaktionen auslösen.
Dennoch, in letzter Zeit scheint es mehr Frauen in Opferrolle zu geben als Kinder. Womöglich hat das damit zu tun, dass heutzutage weniger Menschen Kinder haben als früher? Das Publikum, bei dem man durch das Opfermotiv die emotionale Reaktion auslösen will, ist nämlich im Fall eines kindlichen Opfers stärker auf Eltern begrenzt. Wer selbst noch keine Kinder hat, kann das oft weniger nachvollziehen - also, auf rationaler Ebene natürlich schon, aber nicht "viszeral"
.
Und wenn männliche Soldaten in großen Schlachten reihenweise weggeschnetzelt werden, ist das für uns Fantasy-Leser mittlerweile auch Normalzustand. Bleibt also nur noch eine Frau als Opfer. Und bei erwachsenen weiblichen Charakteren scheint es sich mittlerweile fast anzubieten, da auf sexuelle Gewalt zurückzugreifen.
Bei Kindern hat man dieses letzte Tabu zum Glück noch nicht flächendeckend gebrochen - was auch damit zu tun haben könnte, dass man sich mit einer solchen Darstellung in einem Buch, geschweigedenn einem Film relativ schnell in strafrechtlich relevante Bereiche begibt. Nichtsdestotrotz gibt es natürlich auch immer mal wieder Bösewichte, die Kinderschänder sind - auch hier ist wieder Terry Goodkind als Autor zu nennen, der gleich zwei seiner Antagonisten, Darken Rahl und vor allem seinem Handlanger Demmin Nass - diese "Eigenschaft" gegeben hat. Häufiger jedoch sehe ich das Motiv, dass irgendein erwachsener Charakter (männlich oder weiblich) eine Missbrauchsvorgeschichte hat, d.h. mit einem Kindheitstrauma kämpft, dieses aber nie explizit beschrieben wird.
Und mal eine ähnlich kontroverse Behauptung - vielleicht haben wir ja auch mittlerweile mit weiblichen Charakteren mehr Empathie als mit Kindern
. Ein Beispiel dafür wäre etwa, wie sich die gesellschaftliche Sicht auf Abtreibung geändert hat. Wie immer man dazu stehen mag, Fakt ist: Früher stand das Leben des Kindes über dem Willen der werdenden Mutter, heute ist es eher anders herum.
Airstrike schrieb:Spannung (Sex & Gewalt)
Hier möchte ich nochmal einhaken: Sex und Gewalt sind aus meiner Sicht primär "Stimulanzen" für den Leser / Zuschauer - sie erzeugen für sich gesehen keine Spannung, im Gegenteil, sie sind mehr "Entladung" von etwas, das sich vorher angekündigt hat.
Sonst müsste ein Porno ja der Inbegriff der Spannung sein
. Ich denke, da würden die meisten aber widersprechen, denn beim Porno ist jedem von vorneherein klar, was passieren wird - die Frage ist nur das "wie".
Unter Spannung hingegen verstehe ich im Zusammenhang von Geschichten eher
- bezogen auf Sex oder Romanzen das ewige "werden sie oder werden sie nicht?"
- bezogen auf Gewalt die Erwartung, ob sie abgewendet werden kann, und wenn ja, ob rechtzeitig
Ein Grund etwa, warum die Todesszenen im Lied von Eis und Feuer so eine Wirkung haben, ist, weil sie die Grundannahme des idealistischen Lesers von der "Plot Armour" - also, dass den Protagonisten schon nichts geschehen wird - so eiskalt verletzen. Sie spielen mit dieser Erwartung, dass gleich doch noch jemand im letzten Moment einschreiten und die Hinrichtung verhindern wird - aber nein, genau das passiert dann eben nicht
.
In Bezug auf sexuelle Gewalt ist das ähnlich: Die Anzahl an Geschichten, in denen eine Vergewaltigung zu passieren droht, aber in letzter Sekunde verhindert wird, dürfte deutlich größer sein als die Anzahl jener, in denen sie tatsächlich stattfindet. Spannung entsteht also hier dadurch, dass dem Leser klar wird, was gleich passieren könnte, und er mitfiebert, ob es nochmal gut ausgeht. Wenn nicht, ist das meist ein Schlag ins Gesicht oder - in dem Fall treffender gesagt - ein Tritt in die Weichteile
.
Alandra Ossenberg schrieb:"Billig" empfinde ich es auch dann, wenn bei sexueller Gewalt entweder die Folgen (sprich: das Leid der Opfer, egal welchen Geschlechts) hinterher unter den Tisch gekehrt werden
Jetzt geht's los, du hast einen Psychologen auf den Plan gerufen!
Aber in der Tat hat es mich schon vor Beginn meines Studiums gewundert, wie spielend leicht etwa Aliena in Ken Follets "Säulen der Erde" damit klarzukommen scheint.
- Die Säulen der Erde:
Sie hat zwar ab und an mal Flashbacks, ja, aber wenn sie dann mit ihrem Lover ins Bett hüpft, hat sie trotzdem keine Hemmungen und sagt bloß etwas à la "Ich hätte nie gedacht, dass das so schön sein könnte..." etc.
Dagegen steht die ebenfalls korrekte Aussage einer unserer Dozentinnen, die Seele sei "wie ein Gummiband" und halte mehr aus, als man sich so landläufig vorstellen könnte. Tatsächlich leiden viele Menschen sogar unter dem alltäglichen Kleinkram ("daily hassles") stärker als unter schwerwiegenden Ereignissen ("life-changing events"), welche Menschen tendenziell eher enger zusammenbringen ("Not schweißt zusammen").
Es lässt sich also nicht pauschal festhalten, wie "ein echtes Opfer" reagieren würde. Ich habe es z.B. im Zusammenhang von schweren Krankheiten erlebt - sowohl bei mir selbst als auch bei Gesprächspartnern - dass manche Menschen
am besten über Humor mit ihrem Schicksal fertig werden. Konkret kenne ich jemanden, der bei einem Arbeitsunfall seinen Arm verloren hat, und seine Kollegen meinten, wenn man ihn danach fragt, erzählt er das mittlerweile, als sei das bloß so eine witzige Geschichte.
Ich selbst habe als Kind kurz vor einer Notfalloperation eine Szene der dreisten Drei zitiert, wo Markus Majowski sagt "Schnipp schnapp, ist der Enddarm ab."
Sehr zur Überraschung der Krankenpfleger
. Aber naja, ich wusste ja, in der Narkose würde ich nichts mitkriegen.
Alandra Ossenberg schrieb:oder weder differenziert noch realistisch sind.
Und auch das halte ich eben für schwierig zu beurteilen, zumindest für die meisten Laien-Leser. Denn erstens entwickelt nicht jedes Gewaltopfer eine posttraumatische Belastungsstörung, und zweitens, selbst wenn man einem seiner Charaktere eine solche verpassen will - wie realistisch will man das machen, wenn man selbst nicht unter einer leidet?
Das dürfte ja nun zum Glück bei den wenigsten von uns der Fall sein. Man kann jedoch vielleicht versuchen, sich über angrenzende Phänomene, die häufiger sind - Depressionen oder Angststörungen etwa - an die psychische Problematik heranzutasten.
Wenn ein Charakter etwa infolge sexuellen Missbrauchs eine Phobie vor körperlicher Nähe oder sexueller Begierde anderer entwickelt hat, dann würde man das angehen können wie jede andere Phobie auch: mit Desensibilisierung, Entspannung... und Konfrontationstherapie. Letzteres bedeutet, sich in irgendeiner Form dem angstauslösenden Reiz auszusetzen - das kann z.B. sein, indem man den Ort des Geschehens erneut aufsucht, falls möglich. Oder natürlich man geht zurück zum Aliena-Beispiel und überlegt, was in diesem speziellen Fall die nächstliegende Form der "Konfrontationstherapie" wäre...
Die Frage "
was kann man recherchieren und was muss man alles selbst erlebt haben, um darüber schreiben zu können?", kann hier also auch wieder losgetreten werden
. Interessanterweise kommt sie vorwiegend im Zusammenhang mit Sexszenen - ob gewolltem oder ungewolltem - auf, nie aber im Zusammenhang mit bspw. Schwertkampf-, Reit- oder Schmiedekenntnissen
.
Dabei habe ich bereits in beiderlei Hinsicht solch haarsträubenden Unrealismus gelesen
. Eragon, der sein Kettenhemd in den Rucksack packt, damit es leichter ist; bei Bernhard Hennen können Kettenhemden offenbar Wucht abfangen, aber Schnitte nicht (statt genau andersherum), und die meisten Sexszenen in Fantasy-Büchern lesen sich für mich eher wie Projektionen der Fantasien des Autors... im Guten wie im Schlechten
. Das fängt beim Aussehen der Charaktere an, geht über die Umstände, die zu dem Ganzen führen, und endet bei der konkreten Schilderung, meist einer Mischung aus persönlichen Wunschvorstellungen und pornografischer Fleischbeschau (=detaillierte Beschreibung von Körperteilen).
"Realismus" in Form von eventuell auftretenden Frustrationen und Peinlichkeiten ist dann eher dem Comedy-Genre vorbehalten.