@Necroghoul07: Genau von dieser 16-Personalities-Seite sprach ich doch in dem Satz, den du von mir zitiert hast. Wenn du selbst dir schon denken kannst, wie dein Charakter sich in einer gegebenen Situation verhalten würde, würde ich immer erstmal dabei bleiben. Die Persönlichkeitsdiagnostik ist eher hilfreich, wenn du mal nicht weißt oder dir unsicher bist, wie ein bestimmter Charakter sich in einer konkreten Situation verhalten würde. Insbesondere, wenn die Persönlichkeit des Charakters stark von deiner eigenen abweicht.
In meiner Fantasy-Story ist die Elfenmagierin "Architekt" (INTJ), wie ich laut diesem Test auch. Sie läuft generell Gefahr, ein Self-Insert zu sein (allerdings anderes Geschlecht).
In meiner jetzigen Sci-Fi-Story hingegen ist die Protagonistin "Entrepreneur" (ESTP). Es weichen also drei von vier Buchstaben von meinem eigenen Typen ab. Meist habe ich trotzdem ein gutes Bild vor Augen, wie sie sich in unterschiedlichen Situationen jeweils verhalten würde. Aber falls ich das mal nicht weiß, kann ich mich von diesen Handlungstendenzen gerne inspirieren lassen.
Necroghoul07 schrieb:bräuchte eher Tests, ob meine dargestellten Reaktionen auf dargestellte Situationen passend sind. Ich selbst finde beim Lesen oder Gucken Handlungen der Figuren oft total unglaubhaft.
Die Frage sollte nie sein "würde ein Mensch sich so verhalten?", sondern "würde dieser bestimmte Charakter sich so verhalten?" Man kann von einer Statistik nie auf ein konkretes Individuum schließen - und umgekehrt widerlegen anekdotische Einzelbeispiele von Individuen keine Statistik. Wenn es für deinen Charakter glaubhaft ist (konsistent mit seinem vorherigen Verhalten, seinen aktuellen Zielen, Ängsten, im aktuellen Setting / Kontext usw.), dann wird es auch für den Leser glaubhaft sein.
Necroghoul07 schrieb:Zweitens, soll ich beim Beschreiben von Verhalten und Gedanken ungewöhnlicher Personen hinnehmen, dass viele Leser Motive und Charakter falsch bewerten werden, weil sie sich nur in das Erleben "normal tickender Menschen" reindenken können? Oder das erläutern, auf die Gefahr hin, dass die Geschichte dadurch langweiliger werden könnte?
Meine Geschichte hat, wie ich in einem anderen Thread erwähnt habe, auch einige solcher "unintuitiver Schlüsse". Ich habe mich dafür entschieden, den Leser dann lieber zu viel an die Hand zu nehmen als zu wenig - und ihn Stück für Stück durch den Gedankengang zu führen. Er muss mir ja am Ende nicht zustimmen, aber er muss zumindest die Logik nachvollziehen können. Selbst wenn ein Plot Twist dann erst einmal aus dem Nichts kommt, muss er zumindest rückblickend nachvollziehbar sein - sodass der Leser sich dann über sich selbst ärgert, dass er das nicht hat kommen sehen. Das wurde sehr schön anhand von Game of Thrones diskutiert, weil die frühen Staffeln diese "rückwirkende Plausibilität" (z.B. der roten Hochzeit) sehr gut hinbekommen haben, die späteren Episoden (z.B. "Die Glocken") nicht.
In dem von einem Kollegen meines Vaters mir kürzlich empfohlenen Ratgeber "Wie man einen verdammt guten Roman schreibt" wird u.a. behauptet, jede Geschichte versuche im Grunde, eine (und zwar nur eine einzige) Behauptung zu belegen. In einem Sachtext / Aufsatz würdest du ja auch deine Schlussfolgerung Schritt für Schritt begründen, oder?
Necroghoul07 schrieb:Drittens, soll ich den Klischees/Fehlvorstellungen des Durchschnittslesers zu z. B. Intelligenz, Psychopathie gerecht werden oder so schreiben, wie ich es korrekt finde, was dann oft zu Befremden führt?
Diese Klischees stammen ja oft aus anderen Geschichten, die der Leser zuvor gelesen oder gesehen hat. Vorhin habe ich noch ein Video gesehen von Chris Gore (Film Courage), der die These aufstellte, ein Grund, warum die Schreibleistung in vielen Filmen heute schlechter sei als früher, liege darin, dass viele Autoren nicht mehr aus ihrer eigenen Lebenserfahrung schreiben, sondern "von anderen Filmen abschreiben" bzw. sich zumindest hauptsächlich von anderen Filmen inspirieren lassen, die sie selbst zuvor gesehen haben. So entstehen einerseits bestimmte Tropes, andererseits verbreitet sich dadurch auch Fehlinformation durch bloße Wiederholung (z.B. der durch Dungeons & Dragons in die Welt gesetzte Gedanke, ein "Langschwert" sei ein Einhandschwert).
Gerade Schizophrenie wird im Film oft falsch dargestellt, nämlich eher so wie eine dissoziative Persönlichkeitsstörung. Nehmen wir hier Gollum oder den Grünen Kobold aus Spider-Man als Beispiel: Diese Charaktere werden gezeigt, wie sie mit sich selbst reden. Beim Grünen Kobold gibt es sogar konkret eine Szene, wo Norman Osborn mit seinem Spiegelbild spricht.
Tatsächlich zeichnet sich Schizophrenie vor allem durch akustische Illusionen aus, also "Stimmen hören". Zudem gibt es einen Zusammenhang mit Parkinson: Wenn man einem Schizophrenie-Patienten eine starke Dosis Neuroleptika gibt, kann er Parkinson-Symptome zeigen; und wenn man einem Parkinson-Patienten eine hohe Dosis L-Dopa gibt, kann er schizophrene Symptome zeigen.
Was Psychopathie angeht: Das wird in Filmen oft verwechselt mit Sadismus (Alltagssadismus stellt die optionale vierte Komponente der Dunklen Triade dar: Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie). Dabei muss ein Psychopath nicht unbedingt Spaß am Quälen anderer haben; es wäre ihm bloß einfach egal. Wenn andere leiden, würde er das in Kauf nehmen, wenn es seinen eigenen Zielen nutzt. Wenn nicht, dann hat er keinen Grund, anderen zu schaden.
Auch beim Narzissmus gibt es oft Verwirrung, weil es nicht nur die "grandiose" Form gibt, wo man sich selbst als den Tollsten auf der Welt inszeniert - sondern auch die "vulnerable" Form, wo man nicht für seine Leistungen, sondern für seine Wehwehchen im Mittelpunkt stehen will, als sei man die ärmste Person unter der Sonne.
Ich würde also weder einfach "die Erwartungen des Lesers bestätigen" (insbesondere dann nicht, wenn ich eigentlich eine andere Geschichte erzählen möchte und mich diese Erwartungen bloß dabei einengen), noch würde ich sie "richtigstellen" mit etwas, das bloß meine persönliche Meinung ist. Sondern am besten das Thema recherchieren und die ggf. falschen Vorstellungen des Lesers dann nach bestem Wissen und Gewissen mit einer realistischen Darstellung "richtigstellen". Auch hier gilt natürlich: Es gibt nicht "die eine Art", auf die sich ein Charakter mit einem gegebenen psychischen Problem verhält. Es muss immer noch zu diesem bestimmten Charakter passen.
Deshalb halte ich nicht viel von diesem modernen "Repräsentationsanspruch": Dahinter steckt die Annahme, wenn man einen Charakter mit PTSD in seiner Geschichte hat (und sein wir mal ehrlich, davon gibt es mittlerweile ja eine Menge), müsse der als Self-Insert für alle realen Menschen mit PTSD fungieren. Das kann ein einzelner Mensch, real oder fiktiv, aber gar nicht leisten - diesem Anspruch kann er nicht gerecht werden.
Bei Depressionen etwa können sich
völlig entgegengesetzte Verhaltensmuster zeigen: Manche Betroffene wollen auf einmal mehr schlafen als früher. Andere können überhaupt nicht mehr schlafen. Übergreifend kann man also nur sagen, dass eines von vielen möglichen Symptomen bei Depressionen "Schlafstörungen" sind, also Abweichungen vom Normalzustand - aber ob "nach oben" oder "nach unten" ist damit nicht festgelegt.
Bei der Reaktion auf sexuelle Gewalt ist es ähnlich: Manche meiden danach jegliche sexuelle Aktivität. Andere werden "sexuell hyperaktiv", suchen also aktiv sexuelle Begegnungen, ggf. mehr, als sie das sonst je getan hätten. Je transparenter man dem Leser durch Schildern der Gefühlswelt dieses konkreten Charakters macht, warum er sich gerade so verhält, desto glaubhafter wird dieses Verhalten auch erscheinen. Dabei besser ein bisschen zu viel Nabelschau als Verwirrung.
Wie sagte Abbie Emmons so schön in einem ihrer Videos: "A confused mind always says no."