In der heutigen Zeit gilt eine Serie ja oft nur noch dann als realistisch, wenn sie möglichst düster und dreckig ist. Schuld daran ist u.a. wieder einmal Game of Thrones. Allerdings wäre das nicht das erste Mal, dass die Gründe für den anfänglichen Erfolg von Game of Thrones (bis zum rasanten Sturzflug ab Season 7 und der Bruchlandung in Season von anderen Autoren missverstanden wurden. Im Grunde genommen haben die Autoren von Game of Thrones mit Season 7 und 8 ja bewiesen, dass sogar sie selbst die Gründe für ihren Erfolg falsch interpretiert haben:
Aus "Ah, die Leute lieben Plottwists!" wurden Plottwists um ihrer selbst Willen; aus "Ah, Nacktheit bringt Aufmerksamkeit (welch Überraschung) " wurde ein Quoten-Schniedel im Close-Up-Shot von einem belanglosen Nebencharakter. Aus "Ah, Gewalt und Schockmomente bringen Aufmerksamkeit" wurde unverhältnismäßige Gewaltanwendung, die die Zuschauer aus ihrer Immersion herausgeworfen hat (Versagen der "suspension of disbelief").
Man braucht jedoch in dem Bestreben, seine Serie "dreckig und düster" erscheinen zu lassen, gar nicht bis zur extremen physischen Gewaltanwendung zu gehen, um die Immersion kaputtzumachen:
Verbale Gewalt in Form ständiger persönlicher Konflikte zwischen den Hauptpersonen ist da oft schon genug.
In letzter Zeit sehe ich es immer wieder, dass die Hauptcharaktere untereinander in ständigem Wettbewerb stehen, sich alle Nase lang gegenseitig angiften, und man sich regelmäßig fragt, was außer der Plot Armour (in diesem Fall: die Rüstung, die den Plot selbst schützt! ) die Charaktere eigentlich zusammenhält. Warum die ständige Eskalation zwischen Figuren, die einem eigentlich sympathisch gemacht werden sollen? Gibt es dafür einen plausiblen Grund innerhalb der Geschichte. Egal - Hauptsache, die Menschen wirken genauso schlecht und verdorben, wie die Welt, die sie umgibt. Denn das ist ja "realistisch". Naja... wie realistisch es ist, dass Menschen, die sich gegenseitig ganz offensichtlich so schlecht ausstehen können, solange zusammenarbeiten, das darf bezweifelt werden.
Woher kommt dieser moderne misanthropische Blick auf die eigenen Charaktere?
Hier nur mal eine Auswahl von Beispielen, wo mir das in jüngster Zeit aufgefallen ist:
Heißt das nun, dass die Welt nicht mehr "düster und dreckig" sein darf? Müssen wir zurück zu den "naiveren" und optimistischeren Geschichten der 1990er und frühen 2000er, die sich immer noch großer, treuer Fanscharen erfreuen - seien es nun die Utopien von Star Trek: The Next Generation und Deep Space Nine, der kindliche Eskapismus von Harry Potter oder die "klassische" Fantasysage mit einem überwiegenden Anteil "nobler" Helden wie im Herrn der Ringe - auch, wenn unser moderner, vom grimmigen, düsteren und dreckigen "Realismus" geprägter Verstand uns dabei im Hinterkopf sagt, diese optimistischen Geschichten seien zu simpel?
Nein, das kann auch nicht die Lösung sein. Denn eine chronisch gutgelaunte Lieutenant Commander Dax, die auch in wirklich düsteren und lebensbedrohlichen Situationen noch lächelnd ihre Witzchen macht (und zwar nicht mit dem Han-Solo-Galgenhumor "Ich denke, wir werden alle bald sehr viel dünner sein..."), kann die Immersion genauso zerstören. Dann fiebert man aus einem anderen Grund nicht mit den Charakteren mit: Nicht, weil man sich vor lauter Streit nicht mit ihnen identifizieren möchte - bei Star Trek kommen die Hauptcharaktere ja im Großen und Ganzen gut miteinander klar, was die Serien viel leichter verdaulich macht. Sondern, weil man das Gefühl hat, dass nur selten wirklich etwas auf dem Spiel steht.
Die perfekte Balance schaffen für mich Serien, deren Setting und Welt zwar "realistisch" und "düster" sind, wo die Charaktere aber weiterhin "gut" bleiben - trotz all der widrigen Umstände. In solch einer Welt menschlich zu bleiben ist schließlich deutlich schwieriger als in einem utopischen Setting wie Star Trek. Also bewundert man diese Charaktere automatisch noch mehr.
Ich habe natürlich ein paar eigene Theorien darüber, woher diese misanthropische Weltsicht von Autoren auf ihre Charaktere kommen könnte, die eine exzellente Methode darstellt, dem Zuschauer oder Leser diese Charaktere im Handumdrehen zu verleiden.
Aber bevor ich die ausführe, möchte ich natürlich erstmal wissen, ob ihr diesen Trend genauso wahrnehmt wie ich.
Aus "Ah, die Leute lieben Plottwists!" wurden Plottwists um ihrer selbst Willen; aus "Ah, Nacktheit bringt Aufmerksamkeit (welch Überraschung) " wurde ein Quoten-Schniedel im Close-Up-Shot von einem belanglosen Nebencharakter. Aus "Ah, Gewalt und Schockmomente bringen Aufmerksamkeit" wurde unverhältnismäßige Gewaltanwendung, die die Zuschauer aus ihrer Immersion herausgeworfen hat (Versagen der "suspension of disbelief").
Man braucht jedoch in dem Bestreben, seine Serie "dreckig und düster" erscheinen zu lassen, gar nicht bis zur extremen physischen Gewaltanwendung zu gehen, um die Immersion kaputtzumachen:
Verbale Gewalt in Form ständiger persönlicher Konflikte zwischen den Hauptpersonen ist da oft schon genug.
In letzter Zeit sehe ich es immer wieder, dass die Hauptcharaktere untereinander in ständigem Wettbewerb stehen, sich alle Nase lang gegenseitig angiften, und man sich regelmäßig fragt, was außer der Plot Armour (in diesem Fall: die Rüstung, die den Plot selbst schützt! ) die Charaktere eigentlich zusammenhält. Warum die ständige Eskalation zwischen Figuren, die einem eigentlich sympathisch gemacht werden sollen? Gibt es dafür einen plausiblen Grund innerhalb der Geschichte. Egal - Hauptsache, die Menschen wirken genauso schlecht und verdorben, wie die Welt, die sie umgibt. Denn das ist ja "realistisch". Naja... wie realistisch es ist, dass Menschen, die sich gegenseitig ganz offensichtlich so schlecht ausstehen können, solange zusammenarbeiten, das darf bezweifelt werden.
Woher kommt dieser moderne misanthropische Blick auf die eigenen Charaktere?
Hier nur mal eine Auswahl von Beispielen, wo mir das in jüngster Zeit aufgefallen ist:
- Bücher, Serien und Filme, die es geschafft haben, mich mit ihrer Misanthropie anzukotzen:
Bartimäus-Trilogie (Jonathan Stroud)
Dark Matter
Glee (erst ab den in den späteren Staffeln)
House of Cards
How to Get Away With Murder
Star Trek: Picard
Star Wars VIII: The Last Jedi
Unreal*
Whiplash
X-Men: Dark Phoenix
*Unreal (die Serie mit Shiri Appleby über die Filmcrew einer fiktionalen Datingshow namens "Everlasting", also Trash-TV zum finanziellen Aufwärts- und sozialen Abwärtsvergleich à la "Der Bachelor") ist der einzige Titel auf dieser Liste, den ich ein wenig in Schutz nehmen kann. Denn hier wirkt es zumindest so, als seien das ständige Drama und die Konflikte zwischen den Charakteren absolut gewollt: Im Gegensatz zu den anderen hier genannten versucht die Serie gar nicht, die Hauptfiguren Rachel, Quinn etc. als Identifikationscharaktere aufzubauen.
Meinen Eltern ging das anders - den ging auch diese Reihe schnell auf die Nerven. Ich hätte sie paradoxerweise eher wegsuchten können, obwohl die Serie oberflächlich all die Makel aufweist wie die anderen hier genannten auch, und das auch noch in Hochpotenz.
Eben gerade weil es bei Unreal so übertrieben scheint, sehe ich die Serie eher als eine moderne Form des Brecht'schen Theaters: Keine Lösung anbieten, bloß das Problem so zeigen, wie es ist. In diesem Fall die Scheinheiligkeit der Medienwelt und die Skrupellosigkeit, die die Macher von Everlasting an den Tag legen, um alles vor die Kamera zu kriegen, was Einschaltquoten bringt.
Ironischerweise macht Unreal seine Zuschauer dabei zu Mittätern. Denn man guckt diese Serie nicht, weil man mit irgendeinem der Charaktere mitfiebert oder gar mitfühlt: Wann immer jemand die Konsequenzen seiner eigenen Entscheidungen erleidet, denkt man sich eigentlich bloß "tja, selbst schuld". Die Serie ist wie ein Autounfall, bzw. im englischen eher "trainwreck": Man heißt nicht gut, was dort passiert, aber man kann trotzdem einfach nicht wegsehen. Damit taugt die Serie selbst natürlich potentiell ebenso zum billigen sozialen Abwärtsvergleich, als wenn man das innerhalb der Serie produzierte Trash-Format gucken würde. Würde das Potential der Serie allerdings damit enden, bliebe sie genau das: Trash. Aber es hat ja einen Grund, warum die realen Zuschauer eben nicht "Everlasting" gucken, sondern die "Meta"-Geschichte unter dem Titel Unreal: Weil sie sich eben über den Trash-Faktor hinaus auch noch zur psychologischen, medialen und politischen Analyse eignet. Und damit eigentlich bloß das "Assi-TV"-Format als Vehikel nutzt, um etwas viel Komplexeres darzustellen.
TL;DR: Unreal kann man mit einem anderen Fokus gucken: Man konzentriert sich nicht auf die Charaktere, sondern auf das Geschehen als Ganzes. In dieser Hinsicht hat die Serie tatsächlich etwas mit einem meiner Allzeit-Lieblingsfilme gemeinsam, nämlich Inception: Da gehen einem die Charaktere auch weitgehend am A**** vorbei, es ist die Geschichte selbst, die fasziniert. Aber bei Inception giften sich die Charaktere natürlich nicht die ganze Zeit gegenseitig an. Um letzteres kommt man bei Unreal nicht herum. Fest steht nur: Unreal ist die einzige Serie auf dieser Liste, wo die ständigen Konflikte zwischen den Charakteren einem für mich klar erkennbaren Zweck dienen. Wohingegen dieses Drama in all den anderen genannten Werken vollkommen überflüssig scheint.
Heißt das nun, dass die Welt nicht mehr "düster und dreckig" sein darf? Müssen wir zurück zu den "naiveren" und optimistischeren Geschichten der 1990er und frühen 2000er, die sich immer noch großer, treuer Fanscharen erfreuen - seien es nun die Utopien von Star Trek: The Next Generation und Deep Space Nine, der kindliche Eskapismus von Harry Potter oder die "klassische" Fantasysage mit einem überwiegenden Anteil "nobler" Helden wie im Herrn der Ringe - auch, wenn unser moderner, vom grimmigen, düsteren und dreckigen "Realismus" geprägter Verstand uns dabei im Hinterkopf sagt, diese optimistischen Geschichten seien zu simpel?
Nein, das kann auch nicht die Lösung sein. Denn eine chronisch gutgelaunte Lieutenant Commander Dax, die auch in wirklich düsteren und lebensbedrohlichen Situationen noch lächelnd ihre Witzchen macht (und zwar nicht mit dem Han-Solo-Galgenhumor "Ich denke, wir werden alle bald sehr viel dünner sein..."), kann die Immersion genauso zerstören. Dann fiebert man aus einem anderen Grund nicht mit den Charakteren mit: Nicht, weil man sich vor lauter Streit nicht mit ihnen identifizieren möchte - bei Star Trek kommen die Hauptcharaktere ja im Großen und Ganzen gut miteinander klar, was die Serien viel leichter verdaulich macht. Sondern, weil man das Gefühl hat, dass nur selten wirklich etwas auf dem Spiel steht.
Die perfekte Balance schaffen für mich Serien, deren Setting und Welt zwar "realistisch" und "düster" sind, wo die Charaktere aber weiterhin "gut" bleiben - trotz all der widrigen Umstände. In solch einer Welt menschlich zu bleiben ist schließlich deutlich schwieriger als in einem utopischen Setting wie Star Trek. Also bewundert man diese Charaktere automatisch noch mehr.
- Bücher, Serien und Filme, die die Balance "düstere Welt, sympathische Charaktere" mMn gut hinbekommen:
The 100
The Boys
Haus des Geldes
Legend of the Seeker
Suits
The 100 bewegt sich von einem apokalyptischen Setting ins nächste. Die Hauptcharaktere müssen ständig unbequeme ethische Entscheidungen treffen. "Unbequem" heißt hierbei häufig, aus einer Gruppe eigener Leute auszuwählen, wer weiterleben darf und wer sterben muss, damit der Rest der Menschheit überlebt. Es vor dem Hintergrund dieser Taten zu schaffen, dass einem die Hauptfiguren trotzdem über all die Seasons hinweg sympathisch bleiben, ist eine große Kunst.- Spoiler bis Season 6:
- Die einzige, die sich für mich in Summe nach wie vor ins Aus geschossen hat, ist Octavia. Bei all dem Mist, den sie verbockt hat, wäre sie in Game of Thrones schon dreimal von den Konsequenzen ihrer eigenen Handlungen eingeholt und getötet worden. Sie hat die langsame Entwicklung zur Tyrannin durchgemacht, die man bei einer gewissen Königin aus Game of Thrones hätte zeigen müssen. Die 6. Season hat dann Ansätze gemacht, ihr einen Redemption Arc zu verpassen - der wurde jedoch bisher für mich nicht befriedigend zu Ende geführt.
The Boys wäre bloß simples "Coole-Sprüche-Popcorn-Kino", wenn die Superhelden alle die egoistischen, durchkommerzialisierten Markenprodukte blieben, als die sie eingeführt werden. Dann würde man einfach nur mit Billy Butcher und seinen Jungs mitfiebern, wie sie die vermeintlichen Good Guys, die in Wahrheit die Bösen sind, abmurksen und dabei Sprüche klopfen. Und man würde über die ganzen satirischen Anspielungen lachen.
Die Serie erreicht ihr wahres Niveau erst dadurch, dass man auch mit den Antagonisten, die ja gleichzeitig auf seltsame Weise Protagonisten sind, mitfühlen kann - weil eben selbst unter den Seven die meisten immer noch ein Gewissen haben. Ob Queen Maeve, A-Train oder selbst Homelander: Bei allen sieht man immer wieder Anzeichen, die einen Hoffnung schöpfen lassen, dass sie sich irgendwann gegen Vought wenden werden. Die eigentlichen Bösewichte sind nicht die Seven, sondern der Multimilliarden-Konzern im Hintergrund, der sie managed. Und die Superhelden sind gleichzeitig Täter und Opfer in diesem Spiel.
Im Mix dieser "ambiguen" Charaktere wirkt das blonde Engelchen Starlight fast schon Fehl am Platz - mehr wie eine Wunschvorstellung der Autoren, die diese Wandlung vom Seven-Mitglied zur Vought-Gegnerin viel zu schnell durchläuft. Sie ist zwar keine Mary Sue - dafür ist sie nicht mächtig genug und auch oft zu passiv - aber sie macht einen Rückbezug auf die Vorläuferin der Mary Sue: Iphigenie auf Tauris. Zwar passiver, nicht so mächtig wie Sue, aber immer noch unrealistisch perfekt.
Umso wichtiger ist es also umgekehrt wiederum, die anderen Superhelden der Seven menschlicher erscheinen zu lassen - und umgekehrt Butcher & Co. auch ab und an unverhältnismäßig grausam - damit keine Schwarz-Weiß-Malerei entsteht zwischen der "guten" Seite (=der, auf der Starlight steht) und der "bösen" (=der anderen), auf der alle egomanische Monster sind: Man kann sich einige der Seven vorstellen, wie sie auf die Seite der "Rebellen" wechseln, aber umgekehrt ist Starlight von ihrem Design her ein Charakter, den man sich nur schwer als Antagonistin vorstellen kann.
Die Boys untereinander sind in ihrem Umgang zwar auch nicht gerade zimperlich (wir zählen mittlerweile, wie oft Billy Butcher innerhalb einer Folge "F*tze" sagt, und oft ist damit einer seiner Kollegen gemeint). Allerdings variiert das meist zwischen freundschaftlichen Beleidigungen und "tough love". Also, wenn Butcher z.B. Hughie auf eine seiner Schwächen hinweist, damit er sie langfristig überwinden kann. Dann ist er kurzfristig vielleicht gemein oder sogar grausam zu ihm, aber langfristig hilft er ihm damit. Man zweifelt selten daran, dass Butcher eigentlich nur das Beste für Hughie will - und in der aktuellen Season fängt man auch langsam an, zu verstehen, warum.
Legend of the Seeker ist das, was herauskommt, wenn man eine an sich düstere Welt à la Game of Thrones nimmt, aber dann die Charaktere so optimistisch schreibt wie bei Star Trek. Und zwar nicht auf die selbstgerechte Weise, wie Terry Goodkind (RIP) das selbst oft getan hat - wo seine Protas oft durchaus unverhältnismäßig grausam waren und bloß damit durchkamen, weil sie eben die Portas waren - sondern auf eine Weise, die sich auch nicht zu fein war, die Stimmung mal ins Lustige oder gar Alberne kippen zu lassen, obwohl die Welt eigentlich die ganze Zeit am Abgrund steht. Anstatt jedoch wie Dax in Star Trek unrealistisch optimistisch zu wirken, geben diese Einlagen der Seeker-Geschichte die dringend benötigte heitere Auflockerung, die die oftmals durchweg düsteren Bücher sehr vermissen lassen.
Haus des Geldes - tja, wie bekommt man die Zuschauer dazu, mit einer Gruppe von Bankräubern mitzufiebern? Und gleichzeitig mit den Polizisten, die versuchen, sie aufzuhalten? Indem man alle beteiligten Identifikationscharaktere stets ihr bestes tun lässt, um Tote zu vermeiden. Obwohl das Setting ein düsteres, weil kriminelles ist, lässt sie einen trotzdem gleichzeitig an das Gute im Menschen glauben - ähnlich wie bei The 100: Je schlimmer die Umstände, desto mehr Respekt hat man für die Charaktere, die es trotz dieser Umstände schaffen, ihr Gewissen zu behalten.
Ich war dieser Serie gegenüber lange skeptisch, weil ich allein beim Hören der Prämisse, dass es um einen Banküberfall geht, an einen typischen Ami-Film mit viel Sprücheklopfen und viel Geballer gedacht habe. Da wusste ich zwar schon, dass die Serie spanisch ist - ich wusste aber auch, dass Netflix daran beteiligt war (de facto waren sie das erst ab Season 3, und das merkt man auch - nicht nur positiv). Also US-Einfluss. Und auch ohne amerikanische Produktionsbeteiligung sind viele Filmemacher in Europa ja trotzdem einfach dadurch "geprimed", dass der überwältigende Großteil der Filme, die man hierzulande konsumiert, immer noch aus Hollywood kommt. Man ist einfach diese Erzählstruktur und dieses Pacing gewohnt.
Suits dreht sich um eine Kanzlei voller Top-Anwälte in New York, man geht also damit erstmal per default davon aus, dass alle Hauptcharaktere extrem materialistisch, anstrengend selbstbewusst und in ständigem Wettbewerb untereinander stehen. Diese Serie tappt von den hier genannten noch am ehesten ab und an in ähnliche Gefilde wie die Diven aus den späten Glee-Staffeln oder die skrupellosen Showrunner aus Unreal. Aber Suits rettet sich durch jene Momente, wo die Charaktere dann eben doch menschliche Züge zeigen. So wie man auch bei den Soziopathen und Misanthropen Sherlock Holmes (Benedict Cumberbatch) und Dr. House die rar gesäten menschlichen Momente dann in der Folge umso mehr zu schätzen weiß.
Und analog zu Starlight bei The Boys sind diese menschelnden Momente beim ewigen Gutmenschen Mike Ross sogar noch am wenigsten interessant. Viel interessanter ist es, wann immer dieser Idealist Mike es schafft, den selbstbezogeneren Harvey zu sozialem Verhalten zu bringen, oder wann immer der notorisch hinterhältige Louis Litt über seinen Schatten springt und das ehrliche Gespräch mit seinen Kollegen sucht, anstatt hinter ihrem Rücken zu intrigieren.
Selbst Meghan Markle, die ich im realen Leben stets als Bilderbuch-Narzisstin wahrnehme und der ich dementsprechend zu Beginn der Serie ebenfalls äußerst skeptisch gegenüberstand, schafft es während der Dauer, die so eine Folge läuft, dass ich ihr die Rolle der Rachel Zane abnehme - inklusive mancher guter Qualitäten, die ich der Schauspielerin dahinter nicht unbedingt zuschreiben würde. Daran erkennt man dann schließlich auch eine gute Schauspielleistung. Bei Glee hingegen habe ich das Gefühl, dass die meisten Darsteller einfach nur sich selbst spielen. Und dass z.B. die dortige Rachel (immer diese Rachels ...) sich in der Serie genau so gibt, wie sie auch im wahren Leben ist. Immerhin beschränkt sich das am Anfang der Serie auf sie, doch mit der Zeit färbt das Divengehabe auf alle anderen Charaktere bei Glee ab, sodass sie einem nur noch auf die Nerven gehen. Denn wenn all diese Riesen-Egos aufeinanderprallen, gibt es natürlich unweigerlich jede Menge unnötiges Drama und jede Menge Streit zwischen den Hauptfiguren über für Außenstehende völlig triviale Dinge.
Was dagegen Streit zwischen den Hauptcharakteren bei Suits angeht, so hat man bei den Hauptfiguren Mike, Harvey, Rachel und Donna in der Tat das Gefühl, dass sie hauptsächlich deshalb miteinander streiten, weil sie einander wichtig sind - an einer Stelle spricht Rachel das sogar explizit genau so aus, als sie ihre Beziehung zu Mike beschreibt. Ähnlich also wie bei Butcher und Hughie: Kurzfristig Streit in Kauf nehmen, um langfristig den Schaden an nahestehenden Personen geringer zu halten, als wenn man das Thema umgehen würde.
Ich habe natürlich ein paar eigene Theorien darüber, woher diese misanthropische Weltsicht von Autoren auf ihre Charaktere kommen könnte, die eine exzellente Methode darstellt, dem Zuschauer oder Leser diese Charaktere im Handumdrehen zu verleiden.
Aber bevor ich die ausführe, möchte ich natürlich erstmal wissen, ob ihr diesen Trend genauso wahrnehmt wie ich.
Zuletzt von Strato Incendus am Do Nov 12, 2020 3:36 pm bearbeitet; insgesamt 2-mal bearbeitet