Puh. Ich häng mich mal als Lehrer für Deutsch, Englisch und Informatik rein, der da im Alltag noch etwas näher dran ist!
Als Startpunkt nehme ich ein (zusammengepicktes) Zitat, weil es imho sowohl den Kern der Situation einfängt als auch eine typische Schlussfolgerung umfasst, die ich schwierig finde.
alibikolibri schrieb:Leider war/ist es eine Unart, Leistungsanforderungen immer nur nach unten zu korrigieren. Das hängt u.a. mit dem föderalistischen Bildungssystem in D zusammen. "Früher" wurde Abitur gemacht, um danach zu studieren, heute wird dieser Abschluss mit der Gießkanne über alle geschüttet. [...]
Ich bin mir sicher, dass die meisten, zumindest unterschwellig, verstehen, dass wir uns in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen bewegen. [...]
Viele vergleichen die momentane Zeit mit der Dekadenz im Römischen Reich - und wir alle wissen, wie sie endete ...
Genau! ...ish.
Beginnend bei den
traditionellen Leistungsniveaus und Leistungsanforderungen.
Die sinken tatsächlich nachweisbar, zumindest
in der Tiefe! Und das spürt man sogar mit der (generell nicht gerade vertrauenswürdigen) Methode des guten, alten "War das bei mir in der Schulzeit nicht ganz anders ...?" ziemlich fucking deutlich. Die Gründe hierfür sind allerdings viel zu komplex, als dass dass man da schon einen klaren Gewinner bestimmen könnte – und ich persönlich befürchte, dass das auch erst im Nachhinein, in ein paardutzend oder paarhundert Jahren wirklich verlässlich funktionieren wird, wenn überhaupt. Der Förderalismus bspw. sorgt für eine MENGE Weirdness für Lernende und Lehrende, aber die stärksten untersuchten Änderungen im Schulsystem passen chronologisch nicht zur entsprechenden Entwicklung des Schulsystems. Die Wende spielt in diesem Kontext definitiv eine Rolle.
(Nicht vergessen und daher fett gedruckt: Lehrkräfte müssen "nachwachsen" – oftmals kommen gesellschaftliche und selbst akademische Veränderungen also erst 30-40 Jahre später in den Schulen an!) Der demographische Wandel, diverse Einwanderungswellen, die zunehmende Verstädterung, die Digitalisierung, die zunehmende Öffnung der sozialen Schere ... etc etc etc. Alles Komplexe, die definitiv relevant, schwierig voneinander zu trennen und noch schwieriger einzuschätzen sind.
Und DANN kommt Corona. Wer versucht, zu ignorieren, wie hart Corona in den Schulen eingeschlagen hat, hatte zu dieser Zeit offensichtlich nicht mit den Schulen zu tun.
Klar, der Ukraine-Krieg ist eine Krise, und wir haben nach ein paar Jährchen Einführungsunterricht jetzt fast alle unsere 0-3 ukrainischen Kinder mit wenig bis okayem Deutsch in den Regelklassen, aber solche Krisen gibt es immer wieder, und selbst die sind kein Vergleich für den Schlag in die Magengrube, der Corona für die Kinder war ... was natürlich alle anderen Begründungsversuche und Statistiken über Jahre hinweg massiv erschweren wird.
Was Außenstehende oftmals nicht wissen:
Die Bildungspläne aller (!) Länder haben sich in den letzten Jahrzehnten thematisch massiv erweitert.Und nein, da geht es nicht vorrangig um Gendern – auch wenn man außerhalb Bayerns jetzt durchaus ernstzunehmende Sexualerziehung bekommt! –, sondern erstmal ...
a) um gesellschaftliche Entwicklungen, die wirklich eingebunden werden müssen, also bspw. der Umgang mit dem Internet und präsenterer Alltagstechnologie (gerade dieses Jahr neu: ganz viel künstliche Intelligenz!), die stetig relevantere Weltpolitik (Wer von den Über-30-jährigen hat in der Schule irgendein ernstzunehmendes Verständnis von China oder Indien erlangt?) oder gesellschaftliche Phänomene, die man früher lieber mehr oder weniger bewusst hat unter den Tisch fallen lassen, also bspw. (Neo-)Kolonialismus, die gesellschaftlichen Auswirkungen von, äh,
sämtlicher Wissenschaft oder, genau, Sexualerziehung. Und das alles ist wirklich nur ein Ausschnitt! Der noch viel größere Punkt allerdings kommt ...
b) 100% aus der Wirtschaft! Unsere Schulen sind in den letzten Jahrzehnten deutlich "praxisorientierter" geworden – und das bedeutet leider nur, dass sie tendenziell weg von der Allgemeinbildung hin zum Arbeitsmarkt gesteuert werden. Es gibt fette Schulpraktika und Berufsorientierungen noch und nöcher, Hard Skills und Soft Skills überall, sogar ganze Berufsmessen inkls. Bundeswehrstand
an der Schule. (Die anderen Didaktiker*innen hier lasse ich wahrscheinlich im Strahl kotzen, wenn ich einfach nur "Kompetenzorientierung" sage!
)
Und ja, all das muss ja irgendwie in die Unterrichtsfächer gestopft werden.
Als Deutschlehrer kann man bspw. ein Lied davon singen: Lebenslauf und Bewerbungen schreiben! Computer benutzen und Word! (Informatik ist Programmieren, sagt die Wirtschaft!) Kritischer Umgang mit Internet und sozialen Medien! Kritischer Umgang mit Politik und Manipulation in Medien allgemein! Deutsche Sprachentwicklung! Film- und Ton-Produktion! Etc. NATÜRLICH werden dann ein paar Gedichte weniger gelernt, ein paar Bücher weniger gelesen. (Andere Fächer sind aber genauso betroffen.)
Kleiner Exkurs: Die Wirtschaft und die implizite deutsche Klassenstruktur sind übrigens auch Hauptgründe, aus denen heraus heute gerne mal ~50% Abitur machen: Es wurde halt jahrelang gepredigt, dass die "niederen Abschlüsse" (und vor allem der klassische Realschulabschluss!!) überhaupt nichts zählen, und genau so wurden sie auch in der Wirtschaft gehandhabt.
Natürlich laufen da die Mittelstandseltern Sturm und klagen ihre Kinder auf Gedeih und Verderb in die Oberstufen ein! Inzwischen dreht sich das glücklicherweise, aber man erinnere sich: Schule verändert sich nur seeehr langsam.
Noch ein Exkurs, weil ich von "Gedichte lernen" geredet habe: Manche Sachen fallen auch einfach aus den didaktischen Trends. Man kann sich herrlich streiten, wie viele Gedichte ein deutsches Kind tatsächlich kennen sollte, wie wichtig das
wirklich ist.
Aber letztendlich sind das erstmal
die Umstände. Die Bewertung ist etwas gänzlich Anderes!Ich finde es bspw. GUT, dass wir heute kritischer mit dem traditionellen "Lernstoff" der Schulen umgehen, und selbst die leicht anstrengende Jobmarkt-Fokussierung hat schon irgendwo ihre Daseinsberechtigung, in einer wirtschaftlich komplexeren Welt (zumindest bis zu einem gewissen Punkt). Der ganze neue Kram in den Lehrplänen? Wenig davon ist offensichtlich und indiskutabel schlecht, und vieles absolut notwendig. Und der alte Kram, von dem wir und unsere Eltern früher mehr gelernt haben? Vielleicht war da, zumindest von den Prioritäten her, auch nicht alles 100% essentiell – und ist es heute noch mal weniger.
Denn wie der Alibikolibri richtig sagt: Die Welt verändert sich. Und vielleicht sind breite, praxisorientierte Fähigkeiten heute wichtiger als die traditionelle humanistische Bildung der neu entstehenden Mittelschicht vor ein paarhundert Jahren. Daran messen wir unsere Noten, unser Bildungsniveau nämlich häufig immer noch.
Und hier stelle ich mich dann auch gegen das ad populum (
"Viele vergleichen ...", "Es wird sagt, dass ...") des alibikolibris: Ja, die römische Dekadenz wird bei dem Thema gerne mal herangezogen, aber meistens eher aus der konservativen Ecke. Die Situation ist mindestens komplex, und da neigen wir verständlicherweise zu Skepsis und Defensivpositionen. Ich denke aber, die Situationen von Rom und unserer Gegenwart sind in vielen entscheidenden Punkten überhaupt nicht vergleichbar, allem voran den schon angesprochenen Änderungen. Ja, damals gab es auch einschneidende Änderungen, aber heute ...? Meine FRESSE! Seit der industriellen Revolution haben wir einen Level von Umwälzung, der historisch seinesgleichen sucht, und zwar auf allen grundlegenden Ebenen der Gesellschaft, und dann auch gleich mehrfach.
Ich persönlich denke, ganz optimistisch: Einiges ist Dekadenz, keine Frage. Aber vieles ist auch ein konstruktiver Versuch, mit diesen Änderungen, mit dieser Unsicherheit umzugehen. Und das sieht oftmals aus wie ein Elefant im Porzellanladen! ... weil ein Elefant nun mal nicht weiß, wie dieser neue, angsteinflößende Porzellanladen funktioniert.
Ich beende den Post mit einem Tweet, der sich tief in meinen Kopf gebrannt hat:
Also ja, ich denke, die Veränderungen haben gerade erst begonnen, und die WIRKLICH großen Konsequenzen werden erst die Kindeskinder unserer Kinder spüren. Es werden
wilde Jahre an den Schulen ...
Zuletzt von La Cipolla am So Sep 08, 2024 8:39 am bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet